Er grübelte und mit jeder weiteren Minute des Nachdenkens stieg sein Bedürfnis, sich zu trösten, zu belohnen, zu vergessen. Dank Elisabeths Bemühungen und seiner gewonnenen Einsicht hatte er über eine Woche kein geistiges Getränk konsumiert.
Jetzt aber wollte er sich ablenken, griff nach der bauchigen Flasche und schenkte sich ein, sogar recht großzügig.
Er hieß das Brennen in seinem Hals willkommen und die Wärme in seinem Magen, die sich wie Lava langsam in seinem Körper ausbreitete.
Ahh, kurz war das Gefühl wie heimkommen, fast euphorisch.
Mit jedem weiteren Schluck verschwanden seine Ängste vor dem kommenden Tag in den Hintergrund, verflüchtigten sich.
Sein Kopf fühlte sich außen schwer an, innen jedoch wie emporgehoben und leicht schwebend.
Verdammt, morgen würde er es bereuen, aber heute spürte er sich, fühlte sich frei und stark.
Er würde sich von so einem blöden Mediziner nicht ins Bockshorn jagen lassen; wäre ja noch schöner.
Lachend leerte er die letzten Tropfen und ergab sich bereitwillig dem Schwindel, der ihn vehement erfasste.
(Leseprobe aus „Zweifel im Kopf, Hoffnung im Herzen“, ISBN 9783758305818, auch als E-Book erhältlich)
Sie hatte sich in dieser ersten Woche brav ins Konzept gefügt. Hatte Zeitstrukturierung samt Stundenplänen akzeptiert, war wie ein abgerichtetes Hündchen zu jedem Programmpunkt spaziert.
Und niemand hatte sie gefragt, ob es ihr recht oder angenehm wäre oder ihr auch Freude bereitete. Alle hatten über sie verfügt – offenbar in dem Bewusstsein, dass sie sich mangels korrekter Ausdrucksmöglichkeit sowieso nicht beschweren konnte und die anderen von vornherein die bessere Sachkenntnis besäßen. Ätsch!
Verdammt, sie hatte es satt!
Sie stürmte in den Ordinationsbereich der angestellten Ärzte, hin zur Türe ihres persönlichen Betreuers. Ihr Kopf schien vor Spannung zu vibrieren, die wüsten Wortgemetzel hinter ihrer Stirn nicht zu bändigen. Die Silben wollten wie Wasser aus einer ¾ Zoll-Leitung durch einen ½ Zoll-Hahn schießen, unkontrolliert, ungeordnet, pures Chaos.
Ein kurzes Klopfen und schon stieß sie die Tür auf.
Verzweifelt rang sie nach Luft, wollte das Herzstolpern, das sich beunruhigend in ihrem Brustkorb ausbreitete, einfach wegatmen, schloss die Augen und bat still um Hilfe von oben. Ihr Keuchen wurde leiser, ihre Atemzüge regelmäßig.
Wie ein Fächer klappte sie zusammen. Jeder Mut hatte sie wieder verlassen, jede Energie war aus ihr geströmt und ihre Schultern fielen herab. Wie geschlagen plumpste sie auf einen der beiden Sessel vor dem Schreibtisch, den Kopf gesenkt, Scham und Resignation in jeder Faser ihres Körpers.
Sie hob die Lider zu ihrem Gegenüber, die Augen voller Tränen, die leise ihre Wangen hinuntertropften. Keine Waffen mehr, blank bis in ihre Seele, verletzlich und verwundbar.
(Leseprobe aus „Zweifel im Kopf, Hoffnung im Herzen“, ISBN 9783758305818, auch als E-Book erhältlich)
Müdigkeit überfiel ihn mit verstörender Vehemenz, begleitet von stolpernden Herzschlägen. Diese quälten ihn die letzten Tage immer häufiger, unberechenbar, nicht in den Griff zu bekommen, obwohl er sich wieder zu mehrmals wöchentlichen Trainingseinheiten zwang.
Jetzt begann auch noch ein Ziehen in seinen Schläfen und ein Pochen hinter der Stirn und über seinem Nacken. – Mechanisch griff er in die rechte Schublade seines Schreibtisches und drückte gleich drei Tabletten aus dem Blister heraus. Mit einem großen Schluck Wasser spülte er das Medikament hinunter. Hauptsache, die Kopfschmerzen würden aufhören.
Er hatte schließlich noch einiges auf seiner To-do-Liste bis zum Abend zu erledigen. Er konnte nicht einfach aufstehen, weggehen oder spontan drei Tage verschwinden. Er hatte Arbeit, er hatte Verantwortung, er hatte Pflichten. – Und mit jeder dieser memorierten Tatsachen wurde der Fels auf seinen Schultern schwerer, die Last drückender, sein Spielraum kleiner.
Könnte er weinen, er würde es tun, wenn es Erleichterung brächte. Doch selbst Tränen blieben ihm verwehrt.
Die Stangen seines Lebenskorsetts schnitten in ihn und die Fäden, an denen er wie eine Marionette hing, zogen ihn hierhin und dorthin.
Fremdbestimmt zappelte er von Tag zu Tag.
(Leseprobe aus „Zweifel im Kopf, Hoffnung im Herzen“, ISBN 9783758305818, auch als E-Book erhältlich)