Die Musterung seiner Tochter war Paul nicht entgangen und fragend sah er sie an. Ihr erwartungsvoller Blick ließ ihn weiterreden. – Er nahm einen Schluck von seinem Glas Rotwein und war unschlüssig, womit er fortfahren sollte. – Zu viel kam ihm in den Sinn, zu viele Erlebnisse, zu viele Emotionen und einige davon nicht für Paulette geeignet, weil sie zu persönlich, zu intim waren.
     „Zuerst verordnete sie mir einen Spaziergang entlang der Seine. Sie nahm mich bei der Hand und blitzte mich mit ihren braunen Augen an, dass darin goldene Funken aufleuchteten. ‚Komm, zieh die Schuhe aus, mach die Augen zu und lass dich von mir führen. Hör auf die Geräusche und Laute der Stadt – das ist die Musik von Paris. Atme die Luft ein, ganz tief – das ist das Odeur von Paris. Und dann horch auf das Pochen deines Herzens – das ist der Takt von Paris.‘ Aber ich roch nur ihr Parfum, hörte nur ihre Stimme und fühlte nur ihren Pulsschlag an ihrem Handgelenk.“
     Paul seufzte.
     „Es war Magie. Sie hat mit mir diese Metropole erobert, jede einzelne Sehenswürdigkeit, jeden Geheim-Tipp und jede versteckte Besonderheit zu etwas Einmaligem gemacht. Und ihr Deutsch war so niedlich anzuhören.“

(Leseprobe aus „Liebe und andere Stolpersteine“, Hannas Geschichte Teil 3, ISBN 9783758305719, auch als E-Book erhältlich)

     Vorsichtig blickte sie auf und glaubte sich in einer griechischen oder römischen Göttersage. Apollo, Hermes, Adonis, Eros, Herakles und wie sie alle hießen schienen sich an diesem Morgen in eine einzige menschliche Gestalt kumuliert zu haben – in Paul, der nach dem Duschen, nur mit einem um die Lenden gebundenen Handtuch bedeckt, im morgendlichen Licht mitten im Zimmer stand. Die letzten Wassertropfen bahnten sich träge ihren Weg und die sachten, durch die Vorhänge dringenden Sonnenstrahlen ließen sie auf seiner Haut matt glitzern. Kleine Diamanten, die ihr zuriefen, sie zu berühren, zu trocknen oder wegzuküssen.
     Unwillkürlich hielt Hanna die Luft an und ihre Augen schweiften besitzergreifend über seinen Körper, während genießerisch ihre Zunge über ihre Lippen glitt – wie eine große Katze, die ihre Beute lüstern betrachtete.
     Mein Mann, ja, seit gestern mein Mann, wisperte es in ihrem Kopf, immer wieder. Er versetzte sie noch immer in Unruhe, machte ihre Nerven flattern und jede Faser ihres Körpers vor Sehnsucht vibrieren. Ihre Fantasie begann sich selbständig zu machen und gaukelte ihr Bilder vor, die ihr postwendend aufsteigende Hitze produzierten und ein erwartungsvolles Kribbeln über die Haut jagten.

(Leseprobe aus „Liebe und andere Stolpersteine“, Hannas Geschichte Teil 3, ISBN 9783758305719, auch als E-Book erhältlich)

     Die abendlich aufsteigenden Nebel, die sich wie Fetzen über die Landschaft hängten, Bäume zu unscharfen Gerippen verwandelten, um andernorts in weiß-feuchten Ballen ganze Häuser zu verschlucken, waren wie ein Katalysator für Fantasien und Humus für Geschichten.
     Nicht zuletzt Friedhöfe in pittoresken Orten oder in gottverlassenen Gegenden, wie aus der Zeit gefallen, und kleine Gedenkstätten im Nirgendwo, von liebenden Herzen geschaffen, deren lebenswarmes Schlagen bereits längst verstummt war.
     Und allen gemeinsam die archaischen Kreuze in grauen Farbnuancen – gleichermaßen Erinnerung als auch Mahnung, sodass daneben nur das Gefühl von Kleinheit, Vergänglichkeit und Demut bestehen konnte.
     Dann wieder Felsbrocken in die Gegend gestreut, als ob sich ein Riese in einer Sandkiste oder – besser gesagt – auf einer Wiese spielend ausgetobt hätte. Auf den Grashalmen glitzerten noch Wassertropfen und die Flechten und Moose verschluckten die Feuchtigkeit auf dem Gestein,  ließen es rau und fleckig erscheinen. Die Zeit hatte ihr Werk getan, geformt, verändert, überwachsen, während die nässeschwangeren Wolken teils anthrazitgrau, teils kobaltblau niedrig über den Himmel jagten.
     Wolken, die sich bildeten, seit es die Erde gab.
     Von welchen Schicksalen könnten die stillen Steine erzählen?
     Welche Namen wohl die Menschen trugen, die sich hier eine Kultstätte geschaffen hatten?
     Wie war ihre Sprache, ihre Schrift?
     Doch sie spürten sicher dieselben Emotionen wie wir, grübelte Paul. Liebe, Hass, Gleichgültigkeit, Neid, Begehren, Wut, Trauer, Freude.

(Leseprobe aus „Liebe und andere Stolpersteine“, Hannas Geschichte Teil 3, ISBN 9783758305719, auch als E-Book erhältlich)

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