Gefangene Seele
Langsam schlenderte Hanna durch ihren Garten, ließ ihren Blick über die Fülle ihrer blühenden Rosen schweifen. Dornröschen fiel ihr spontan ein und ein wehmütiges Lächeln zauberte sich auf ihr Gesicht. Meine Güte, wie jung, unbekümmert, ja unschuldig war sie gewesen, als sie die Märchen in sich aufgesaugt hatte.
Stets hatte sie sich wie die Heldin in all diesen Geschichten gefühlt - schlank, schön, begehrt und geliebt von der einzig wahren Liebe ihres Lebens, einem feschen Prinzen. Sie hatte an das Gute geglaubt, an Gerechtigkeit und die Möglichkeit, gesteckte Ziele zu erreichen oder sich ersehnte Hoffnungen zu erfüllen.
Nun, das Leben hatte sie eines Besseren belehrt, sie mit der rauen Realität konfrontiert. Nicht nur Träume zerstört, sondern ihr in viel zu vielen Momenten auch Qualen auferlegt, eine persönliche Hölle an kaum zu ertragenden Gefühlen - von Unzulänglichkeit, Hilflosigkeit, Ausgeliefertsein und Hoffnungslosigkeit.
Doch sie war immer wieder aufgestanden, hatte gekämpft, für sich und andere. Aber der stete Kampf hatte Kraft gekostet. Sicher, ihr Garten, diese zeitweilig so herrlich blühende Oase, schenkte ihr wieder Energie und die treu blickenden Augen ihrer beiden Fellnasen. Nur es war zu wenig, es blieb diese innere Leere, die sich nicht füllen ließ.
Ihr Mann als ihr bester Freund und ein paar engste Vertraute waren ein Stützkorsett. Nur die Wärme, die sie überfluten sollte, die Leidenschaft, die einen Tag perfekt zu machen imstande war, einfach die alles umfassende Liebe, die einen durchs Leben trug und einhüllte wie in einen Mantel aus weicher Wolle als schützenden Kokon, die fehlten ihr. Mehr, als Hanna zuzugeben bereit war. Mehr, als sie jemals offen eingestehen würde.
Was blieb, war die verborgene Wahrheit und die ohne Zögern erklärte Lüge, dass alles bestens war und es ihr gut ginge - mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht. Denn die Dunkelheit der Seele blieb verborgen, das weinende Herz sah man nicht.