Er kennt nicht einmal ihren Namen, fällt ihm gerade ein, und erliegt beinahe der Versuchung, in ihren Sachen zu wühlen, um ihre Identität feststellen zu können. Die übliche Ungeduld hätte sich fast durchgesetzt.
Doch im Platz-Nehmen fokussiert er sich ganz auf die gebeugte Gestalt ihm gegenüber.
Nicht nur ihre Körperhaltung drückt Verzweiflung und Schmerz aus. In Wellen erreichen ihn ihre verstörten Emotionen, teilen ihm ihre Zerrissenheit und ihre Ratlosigkeit mit.
Er spürt es so heftig wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Kann sich nicht erinnern, wann er zuletzt so intensiv einen anderen Menschen wahrgenommen hat.
Nein, heute ist wahrlich kein Tag wie jeder andere, wenn ihn plötzlich seine Vergangenheit überfällt und er ein unsichtbares Band zu dem gesenkten Kopf seines Gegenübers spürt. Verwirrt fährt er mit der linken Hand durch sein Haar und bedankt sich flüchtig bei der Serviererin für das Gebrachte.
Tief atmet er zwei, drei Mal durch und will seinen Mund öffnen, als ihn ein Blick aus ihren Augen trifft. Das Wort verharrt lautlos auf seinen Lippen und er starrt in ein faszinierendes Grün, vergleichbar mit einem von durchziehenden Wolken gestreiften Bergsee. Er versinkt darin, verliert sich in den gespiegelten Gefühlen eines verratenen Kindes, einer zutiefst verletzten Frau und einer jedes Halts beraubten Seele.
(Leseprobe aus „Leben, auf Sand gebaut“, ISBN 9783758307133, auch als E-Book erhältlich)
Mit einem heftigen Schlag landet Maries Faust auf der Kastentüre, wieder und wieder, bis eine Hand sie erfasst und sanft umschließt.
„Alles ist von Mamas Seite gekommen“, schluchzt sie, „und dieses undankbare Schwein vermacht alles dieser Kanaille, dieser Teufelin, die mir den Vater gestohlen hat.“
Sie gleitet zu Boden, krümmt sich, einen unaufhörlichen Tränenstrom im Gesicht und ihr Stammeln „Warum? Wieso mir?“ ist kaum zu verstehen.
Alex kniet sich neben sie, umfängt sie mit seinen Armen, birgt ihren Kopf an seiner Brust.
Nach einer kleinen Ewigkeit richtet sie sich wieder auf, schenkt ihm einen rätselhaften, vielleicht auch bedauernden Blick und erledigt mit ungeheurer Disziplin und eisernem Willen ihr Vorhaben für den Tag.
Ihre kleinen Babyschuhe, die erste aufgehobene Haarsträhne in einem Schächtelchen neben den ersten verlorenen Milchzähnen, der Brautschleier ihrer Mutter und der zerzauste, noch immer nach Myrrhe duftende Zweig – für andere alles Marginalien, sentimentale Skurrilitäten, doch für sie zentnerschwere Erinnerung, die Seele zerreißende Vergangenheit.
(Leseprobe aus „Leben, auf Sand gebaut“, ISBN 9783758307133, auch als E-Book erhältlich)
Dieses Gefühl der gläsernen Wände um sie herum, seit ihrer Schulzeit ein unsichtbarer, hartnäckiger Begleiter, ist wieder drückend gegenwärtig. Keiner, der ihre Gedanken und Empfindungen nachvollziehen könnte oder wollte. Keiner, der Geduld und liebevolles Verständnis aufbringen würde, sondern nur jahrzehntelange Gewohnheit des Beisammenseins. Bemerkungen, manchmal beleidigend, und Gereiztheit, weil sie mit dem Kopf zumeist woanders ist, als bei der gewohnten Aufrechterhaltung des erstarrten Alltags.
Doch halt, das stimmt so nicht.
Blaugraue Augen schieben sich in ihre Verzweiflung und eine Stimme voll Zärtlichkeit und Zuneigung schleicht in ihren Kopf.
Alex – und beides, ein Stich des Bedauerns und der Sehnsucht, fährt durch sie hindurch, lässt sie wanken und sich fragen, ob sie jemals wieder statt Sand festen Boden unter ihren Füßen spüren würde.
(Leseprobe aus „Leben, auf Sand gebaut“, ISBN 9783758307133, auch als E-Book erhältlich)