Muttertag
Der frische Wind weht kühl durch ihr Haar. Hanna steht still da, fast verloren zwischen den Gräberreihen. In Händen hält sie eine Terracotta-Schale, bepflanzt mit Vergissmeinnicht und kleinen Rosen.
All die schreiend bunten Werbeflyer und auf Gefühle oder schlechtes Gewissen abzielenden Spots huschen durch ihren Kopf. Niedlich gekleidete Kinder mit einem einstudierten Gedicht auf den Lippen und die dazugehörigen Väter mit ein wenig Unbehagen in der Miene oder pflichtschuldig absolvierte Besuche mit einem krampfhaft ausgesuchten Geschenk im Arm oder vielleicht überhaupt verweigerte Besonderheit für diesen speziellen Tag, den Muttertag.
Nein, sie selbst hat das nie erlebt und würde es auch nie, es war ihr nicht vergönnt worden – von wem auch immer; ihrem Körper, ihrem zu wenig vorhandenen Wunsch, dem Schicksal?
Hanna blinzelt die Tränen weg, als all die Erinnerungen auf sie einstürzen. Die Strenge, manchmal Unbarmherzigkeit, das oftmals liebevolle Lächeln, die herausfordernden Worte, die Belehrungen, das gelegentliche Lob und die Ambivalenz der gesamten Gefühlspalette. Sie hätte alles, wirklich alles nochmals zurückzuholen gewünscht; doch der Sand der Zeit war durch das Glas der Uhr geronnen, unwiederbringlich.
Kalt läuft es über ihren Rücken, sie fröstelt. Ist ein Leben wirklich erst zu Ende, wenn alle Kurven auf Überwachungsmonitoren eine gerade Linie bilden? Oder endet es nicht schon viel früher, wenn nichts – nicht einmal mehr die Stimmen von geliebten Menschen – mehr das Bewusstsein zu durchdringen scheinen? Wenn nur mehr ein Körper, abgezehrt und verheert von Krankheit und bis zur Unkenntlichkeit den Erinnerungen entfremdet, vor einem liegt.
Wenn Hilflosigkeit absolut wird und Ausgeliefertsein die einzige Option ist. Wenn sich die Augen schließen, weil das Sehen unerträglich ist und nichts Erleichterung bringt, keine Tränen, kein Gebet, einfach nichts.
Gerüche und Bilder von Ende und Auflösung im Gedächtnis verankert, mit Fragen und Antworten zu einem sich immer schneller drehenden Karussell verbunden.
Ihre Finger tasten über den weiß-schwarzen Marmor, stellen den Blumengruß ab, der auf der großen Deckplatte so verloren, ja unbeholfen wirkt. Die Kühle des Steins kriecht durch ihre Adern und wie Eis umklammert es ihr Herz. Die Wolken am Himmel werden immer dunkler, schwerer. Doch sie spürt nicht die Tropfen auf ihrem Körper, die sich jetzt lautlos mit den Tränen auf ihren Wangen vermischen. Langsam löst sich der Kreis ihres Denkens auf, zerrinnt in Nichts, bis sie vollkommen leer ist.
Automatisch setzt Hanna schließlich einen Schritt nach dem anderen – mit einem letzten Bick zurück, voller Trauer, Verzweiflung und unsterblicher Liebe.