Niemand hatte je etwas speziell an ihr gelobt oder für bemerkenswert gehalten. Die Erwartungen hatte sie erfüllt, ja doch, zumindest hatte sie es versucht. Doch sonst?
Wo war sie selbst geblieben? Wer war sie, außerhalb des ausgefüllten Korsetts, das andere ihr angepasst hatten?
Ihr Spiegelbild war ihr oft so fremd, in ihren Augen hässlich und unzulänglich. Dabei wäre sie so gerne hübsch und schlank gewesen, beliebt, gemocht. – Sinnlose Wünsche, bloßes Kopf-Kino. Sie war nur eine Außenseiterin, geduldet von den anderen, in deren Mitte und doch wie durch eine Glaswand von ihnen getrennt.
‚Quäl dich nicht mit Gedanken, die zu nichts führen‘, rief ihre innere Stimme Hanna zur Ordnung und ergänzte, dass sie bestenfalls nur Durchschnitt wäre – in allen Bereichen.
Durchschnitt, nur Durchschnitt hallte es in ihr wider und sie unterdrückte krampfhaft die quälende Sehnsucht, in irgendetwas im Leben gut, besonders oder womöglich einzigartig zu sein.
(Leseprobe aus „Was auch immer Liebe ist“, Hannas Geschichte Teil 1, ISBN 9783758304668, auch als E-Book erhältlich)
Zart wischte er die Feuchtigkeit von ihren Wangen, strich über ihre Hände, Unterarme und hätte am liebsten ihren Schmerz auf sich genommen. Sein eigenes seelisches Fegefeuer blendete er aus.
Seine Finger sandten einen warmen Strom der Beruhigung und der Geborgenheit durch sie, ließen ihre Verzagtheit schwinden.
Ach, wie gut es tut, den aufgestauten Kummer herauszulassen, sich den Frust von der Seele zu reden, dachte Hanna und schloss ihre müden Lider.
Als sie diese wieder öffnete, sah sie ihm direkt in die Augen und entdeckte dort nur Verständnis für sie und Neugierde auf sie.
Endlich das Chaos im Kopf formulieren können, mit jemandem teilen. Gedanken fliegen lassen, ohne Lachen zu ernten. Gefühle aus dem Käfig der Wohlerzogenheit befreien und Vernunft in Verbannung schicken.
Zitternd atmete Hanna aus.
(Leseprobe aus „Was auch immer Liebe ist“, Hannas Geschichte Teil 1, ISBN 9783758304668, auch als E-Book erhältlich)
Würde er dies durchstehen? Und Hanna mit ihm?
Sie war erst zwanzig, ihr stand noch alles im Leben offen. Sie würde ihn irgendwann vergessen, eine neue Liebe finden, sofort heiraten können.
Allein daran zu denken, bohrte sich wie ein Messerstich in sein Herz. Hanna aufgeben zu müssen, wäre das Schwerste, was er jemals in 38 Jahren getan hatte.
Doch er konnte sich diesem verdammten Ehrgefühl, das tief verwurzelt in ihm saß und das er so leichtsinnig und so verliebt vergessen hatte, nicht gewissenlos entziehen.
Er musste Hanna gehen lassen.
Eine Woge von Schmerz überflutete ihn und in einer verzweifelten Gebärde wischte er sich über seinen Kopf.
Die schmelzenden Kristalle rannen über seine Wangen, vermischten sich mit salzigen Tränen und ließen ihn leer und ausgebrannt im Schneetreiben zurück.
Mit einem letzten Blick auf Hannas warm leuchtende Fenster wandte er sich ab, ging in die Nacht weiter und die Finsternis verschluckte ihn – als Schatten eines gebrochenen Mannes mit gebeugtem Rücken.
(Leseprobe aus „Was auch immer Liebe ist“, Hannas Geschichte Teil 1, ISBN 9783758304668, auch als E-Book erhältlich)